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AS (2014) CR 23
Provisorische Ausgabe

 

SITZUNGSPERIODE 2014

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(3. Teil)

BERICHT

23. Sitzung

Mittwoch, 25. Juni 2014, 10.00 Uhr

Andreas GROSS, Schweiz, SOC

(Gedenkveranstaltung anlässlich des hundertsten Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs)

Sehr geehrte Damen und Herren!

Schweigen scheint mir das Entsetzen am angemessensten zum Ausdruck zu bringen, das uns erfassen muss, wenn wir an das zurückdenken, was vor hundert Jahren auf unserem Kontinent begann.

Schweigen, denn es führt uns zu Stille – die größte Antithese zu dem ungeheuren, für uns unvorstellbaren Lärm der explodierenden Granaten und Bomben, Gewehrsalven und zusammenbrechenden Häuser und Wälder, in denen in den folgenden drei Jahrzehnten, erst in Europa, später in der ganzen Welt, über 150 Millionen Menschen zum Opfer fielen, eine unvorstellbare Anzahl, von anderen Menschen zu Tode gebracht.

Schweigen, Stille. Vor hundert Jahren wurde nicht einfach der so genannte Erste Weltkrieg vom Zaune gebrochen; es begann der zweite 31-jährige Krieg in der europäischen Geschichte, der ganz genau genommen, wenn auch nicht für alle und nicht immer gleich heiß, 75 Jahre dauerte – ein ganzes kurzes 20. Jahrhundert lang.

1914 war tatsächlich eine Zäsur. Eine alte Welt, das alte Europa der Imperien, welche die Macht der dünnen, eigensüchtigen Eliten über das Recht stellten, und die vielen einfachen kämpfenden, leidenden, jedenfalls ohnmächtigen Menschen gingen unter in unvorstellbaren, totalen Kriegen, industriellen Gewaltorgien, Massenabschlachtungen. Ein Pole prägte später dazu den Begriff des Genozids, ein anderer den der Verbrechen an der Menschlichkeit, für Norbert Elias war es ein Zivilisationsbruch.

Einem genialen Dichter fiel einmal die Erkenntnis ein, dass aus Katastrophen jeder lernen könne; die eigentliche Kunst sei es, ohne Katastrophen zu lernen. Der erste Teil der Jahrhundertkatastrophe reichte dazu nicht - es bedarf einer weiteren, damit verknüpften Katastrophe. Erst nach dieser, nach 1945, sollte die Menschenwürde nicht mehr den Staaten anvertraut werden, sondern einer revolutionären, überstaatlichen Instanz: unserem Gerichtshof, der Perle unseres Europarates. Wenigstens das Menschenrecht wird jetzt vor staatlicher Macht geschützt.

Am Ende des 3. Drittels der Jahrhundertkatastrophe kam endlich wieder zusammen, was zusammen gehörte. Doch zu einem ähnlich umfassenden, die alten Gegner miteinbeziehenden, Frieden, Freiheit und Demokratie sichernden, transnationalen systemischen Fortschritt reichte es vor bald 25 Jahren nicht mehr. Gewaltvolle Rückfälle waren der Preis.

Diese Schöpfung steht uns immer noch bevor. Wir müssen sie ohne weitere größere Katastrophen schaffen. Denn erst eine transnationale Wertegemeinschaft, die das Recht eines jeden vor jeder fremden Macht zu schützen versteht, kann verhindern, dass in 150 Jahren wieder Einige lieber schweigen möchten, weil wir nicht zu verhindern wussten, was Millionen von Menschen so große Schmerzen zufügte, wie das, was vor hundert Jahren begann.