AL17CR35

AS (2017) CR 35
Provisorische Ausgabe

SITZUNGSPERIODE 2017

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(4. Teil)

BERICHT

35. Sitzung

Donnerstag, 12. Oktober 2017, 16.30 Uhr

Andrej HUNKO, Deutschland, UEL/GUE
(Debatte zum Zeitgeschehen: Katalonien)

Vielen Dank, Herr Präsident,
meine Damen und Herren!

Wir reden heute zum Thema „Die Notwendigkeit einer politischen Lösung der Krise in Katalonien“. Der Titel dieser Debatte soll zum Ausdruck bringen, dass die aktuelle Krise politisch, mit den Mitteln der Politik, gelöst werden muss, und das ist in erster Linie das Wort. Deshalb ist es gut, dass wir hier einen Anfang machen und hierüber eine Aussprache führen.

Lassen Sie mich aber zunächst daran erinnern, dass Spanien in diesem Jahr die 40-jährige Mitgliedschaft im Europarat feiert: 1977 erfolgte der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1978 wurde die spanische Verfassung verabschiedet, 1979 begannen die Beitrittsverhandlungen zur EU.

Bei allen Problemen, die es vielleicht in den letzten Jahren gegeben hat – etwa durch die Auswirkungen und Maßnahmen in Bezug auf die Finanz- und Wirtschaftskrise -, waren das doch unter dem Strich erfolgreiche Jahre, die eine Entwicklung ermöglicht haben, die sich 1977 wohl nur wenige Optimisten vorstellen konnten. An dieser Entwicklung hat die Bevölkerung auch in Katalonien einen erheblichen Anteil, sowohl politisch, als auch wirtschaftlich. Dazu erst einmal meinen herzlichen Glückwunsch an alle Menschen in Spanien!

Herr Präsident, ich würde Ihnen gerne mitteilen, dass ich am 1. Oktober 2017 die umstrittene Abstimmung in Katalonien als Teil einer internationalen Parlamentarierdelegation beobachtet habe. Das war keine offizielle Wahlbeobachtung, wie sie üblicherweise der Europarat oder die OSZE vornimmt, und wurde auch von den katalanischen Behörden nicht als solche deklariert. Sie kann deshalb auch keine abschließenden Aussagen über Legitimität, Legalität und Aussagekraft der Abstimmung machen.

Aber ich kann immerhin die Ereignisse, die am 1. Oktober stattfanden, aus erster Hand bezeugen: Etwa 400 Wahllokale wurden von der spanischen Polizei Guardia Civil gestürmt, um die Wahlurnen zu konfiszieren. Ich selbst war Zeuge einer solchen Stürmung einer Schule in unmittelbarer Nähe der Sagrada Familia in Barcelona. Dort musste ich ebenso erleben, wie gegen friedliche Demonstranten Gummigeschosse eingesetzt wurden, und war dabei, wie die Verletzten von der Ambulanz abtransportiert wurden.

Der Einsatz von Gummigeschossen gegen friedliche Demonstranten ist völlig inakzeptabel. Diese Waffen sind in vielen europäischen Ländern zu Recht verboten oder werden nicht auf Demonstrationen eingesetzt, weil sie zu schweren Verletzungen führen können. Auch Katalonien hat sie verboten. Ich persönlich setze mich für eine europaweite Ächtung des Einsatzes gegen Demonstranten ein.

Die katalanischen Behörden sprechen von insgesamt über  800 Verletzten an diesem Tag. Ich möchte Sir Roger Gale danken, der als ältester Vizepräsident unserer Versammlung die exzessive Gewalt am 1. Oktober verurteilt hat. Ebenso danken möchte ich auch unserem Menschrechtskommissar Nils Muižnieks, der eine unabhängige Untersuchung dieser Vorgänge einfordert. Dieser Forderung möchte ich mich anschließen.

Ich möchte Ihnen aber nicht nur von Gewaltszenen am 1. Oktober berichten. Ich habe für diese Versammlung in den letzten Jahren an die 20 Wahlbeobachtungen durchgeführt, in ganz unterschiedlichen Ländern. Niemals aber habe ich eine so tiefe Leidenschaft, ein solches Herzblut für die Durchführung eines an sich demokratischen Prozesses erlebt.

Ja, die Menschen in Katalonien sind gespalten über die Frage einer tatsächlichen Unabhängigkeit, und das vorliegende Ergebnis von über 90% kann angesichts der Umstände dieses Tages nicht repräsentativ sein. Aber die große Mehrheit der  Menschen in Katalonien will zweifellos ein solches Referendum, wie es etwa die Menschen in Schottland oder in Quebec ausüben konnten.

Ich habe gesehen, wie Menschen mit einer spanischen Fahne in die Wahllokale gegangen sind, um zu dokumentieren, dass sie gegen die Unabhängigkeit sind: Sie wurden von der anwesenden Menge beklatscht, weil sie von der Möglichkeit zur Abstimmung Gebrauch machten. Es war der Geist von Voltaire, den ich dort erlebt habe: „Ich bin zwar nicht Ihrer Meinung, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“

Diese starke, zutiefst demokratische Energie, die ich dort gesehen habe, ist eine politische Realität, die nicht ignoriert werden darf. Sie ist nicht Teil des Problems, sondern möglicher Teil einer Lösung – wie immer diese auch aussehen mag.

Es ist nicht Aufgabe des Europarates oder irgendeiner anderen internationalen Institution, darüber zu entscheiden, wie diese Lösung aussehen soll. Aber ein Punkt scheint mir klar: Die jetzige Situation ist die Folge eines gescheiterten Autonomiestatus von 2004, das sowohl vom katalanischen als auch spanischen Parlament angenommen und 2006 in einem offiziellen und bindenden Referendum mit 80% in Katalonien bestätigt wurde.

Dieses Autonomiestatut wurde auf Initiative des jetzigen Regierungschefs vom spanischen Verfassungsgericht gekippt. Erst im Anschluss daran wurden die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu einer gesellschaftlich relevanten Kraft. Eine Verfassung wird von Menschen gemacht und kann verändert werden, wenn sie nicht mehr den gesellschaftlichen Realitäten entspricht. Ich begrüße es deshalb, dass aktuell sowohl Regierungschef Rajoy als auch der Generalsekretär des Europarates, Jagland, die Möglichkeit von Verfassungsänderungen zumindest angedeutet haben.

Und ein Zweites scheint mir klar: Eine gewaltsame Lösung kann keine Lösung sein. Ich finde es deshalb völlig unverantwortlich, wenn der Sprecher der spanischen Regierungspartei auf einer offiziellen Pressekonferenz mit dem Schicksal des katalanischen Präsidenten der 30-er Jahre droht. Lluis Companys hatte 1934 die Katalanische Republik als Teil einer zukünftigen Bundesrepublik Spanien ausgerufen. Er musste nach dem Sieg Francos nach Frankreich fliehen, wurde dort von der Gestapo der Nazis festgenommen, nach Spanien ausgeliefert, gefoltert und nach einem eintägigen Schnellprozess von frankistischen Militärs erschossen.

Eine Lösung der jetzigen Krise liegt im Dialog. Die internationale Gemeinschaft und hier insbesondere der Europarat stehen hier in der Verantwortung. Die Europäische Menschenrechtskonvention verpflichtet uns, die aktuelle Krise als gemeinsames Problem zu begreifen. Der Raum für Gespräche ist nach wie vor da. Der Europarat verfügt über reichhaltige Möglichkeiten, dabei behilflich zu sein. Dazu gehören die Expertise der Venedig-Kommission in Verfassungsfragen, der Menschenrechtskommissar und der Generalsekretär, die ich alle bitten möchte, die Situation weiter zu verfolgen und Hilfe anzubieten. Auch das Ministerkomitee sollte sich m.E. des Problems annehmen.

Aber es braucht nicht nur den Dialog von Politikern und Institutionen, sondern auch der Zivilgesellschaft. Es ist sehr ermutigend, dass vor einigen Tagen auf Initiative vor allem junger Menschen aus Madrid und Barcelona Zehntausende unter dem Motto „Hablamos? Parlem?“ – Reden wir? in weißer Kleidung auf die Straße gegangen sind. Sie demonstrierten nicht für oder gegen die Unabhängigkeit Kataloniens, sondern für Gespräche, für eine friedliche Lösung.

Lassen Sie mich zum Schluss meinen Wunsch zum Ausdruck bringen, dass Spanien und Katalonien, in welcher Form auch immer, in den kommenden 40 Jahren eine Entwicklung nehmen, die sich heute nur wenige Optimisten vorstellen können.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Elisabeth SCHNEIDER-SCHNEITER, Schweiz, EPP/CD / PPE/DC
(Debatte zum Zeitgeschehen: Katalonien)

Frau Vorsitzende,
geschätzte Kolleginnen und Kollegen!

Immer wieder diskutieren wir hier über Konflikte, bei welchen es um Minderheiten im eigenen Land geht. Die Schweiz, mein Land, hat das Modell des Bundesstaates eben gerade deshalb gewählt, weil sie aus Minderheitsstaaten – wir nennen sie Kantone – zusammengesetzt ist.

Die Schweiz besteht aus 26 politisch mit großer Selbständigkeit ausgestatteten Kantonen. Jeder Kanton verfügt über eigene demokratische Institutionen: eigene Verfassung, eigenes Parlament, eigene Regierung, eigene Gerichte. Wir wählen sogar unseren Senat nach eigenen kantonalen Bestimmungen. Bei einer Abstimmung kann das Mehr der Kantone entscheidend sein über die Annahme oder Ablehnung einer Vorlage.

Die föderalistischen Kompetenzen werden in der Schweiz mit großer Vehemenz verteidigt. Wo immer möglich, bestehen kantonale gesetzliche Regelungen. Obwohl es mittlerweile recht viele Bundesgesetze gibt, sind große Bereiche, wie das Bildungs- und das Gesundheitswesen, Polizei, Strafprozessordnung, Strafvollzug etc. nach wie vor kantonal geregelt. Wo die Unterschiede der kantonalen Systeme stark stören, wird zuerst eine Lösung über ein Konkordat zwischen den Kantonen gesucht.

Erst im äußersten Notfall ist man bereit, ein zentralistisches Bundesgesetz ins Auge zu fassen – nicht ohne sogleich den Kantonen wieder die Verantwortung für dessen Umsetzung in der Praxis zu übertragen.

Natürlich wird das föderalistische System auch in der Schweiz immer wieder diskutiert. Unterschiedliche Regelungen in 26 Kantonen sind nicht immer effizient, kosten viel und beflügeln die Bürokratie. Und dennoch hält die Schweiz zu recht an ihrem Föderalistischen System fest.

Denn auch wir kennen Minderheiten. Wir haben vier Sprachregionen, wir haben städtisch geprägte Kantone, Berggebiete, wirtschaftlich starke und wirtschaftlich schwächere Kantone, und in vielen Kantonen bestehen unterschiedliche Mentalitäten und Ethnien.

Wenn Entscheidungen über die Köpfe einer Minderheit hinweg gefällt werden, staut sich eine gefährliche Frustration auf. Das ist zurzeit in Katalonien der Fall, aber auch in vielen Minderheitsregionen in anderen Ländern. Viele Konflikte sind doch einfach entstanden, weil man die Minderheiten nicht ernst nimmt, statt ihnen einen Spielraum für mehr Autonomie zu geben.

Genau hier kann das System der Schweiz Modell stehen. Die Schweiz steht Ihnen dabei mit ihren guten Diensten zur Verfügung.